Was hält eine Kalserin im Flachland? Im Falle Maria Deutingers ist es die erfolgreiche Karriere als Chirurgin, die ihr drei Jahrzehnte in Wien bescherte. In ihrem Herkunftsort am Großglockner gestaltet sie dennoch mit und schaffte aus einer Ruine einen besonderen Kraftplatz. Nun nähert sie sich Kals als alten, neuen Lebensmittelpunkt wieder an. 

Mein Herkunftsort Kals am Großglockner ist ein Alpendorf, geprägt von den Bergen. Im Flachland fühle ich mich daher nie besonders wohl. Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie ich frühmorgens in Wien am Gürtel zur Arbeit fuhr. Es war Herbst, alles war nebelgrau. Die Nachrichten um Sieben verkündeten „herrliches Bergwetter“. Da dachte ich mir, dass ich auf der falschen Straße oder in die falsche Richtung unterwegs bin. So hat sich der Wunsch immer gehalten, dass ich von Wien weggehe. Jetzt bin ich froh, dass ich das noch erleben kann. Ich kehre nach Kals zurück.

 

(c) Michael Kranewitter

Wenn ich darüber nachdenke, ist „Ausheimische“ ein treffender Ausdruck für mich. Ich betone noch immer, dass ich keine Wienerin bin – dass ich nur „Zuagroaste“ bin. Ich verließ meinen Herkunftsort mit vierzehn Jahren, weil ich nach Innsbruck ins Gymnasium ging. Ich habe in Innsbruck Medizin studiert, bin nach dem Studium nach Salzburg gegangen und dann meinem Mann nach Wien gefolgt. Mittlerweile lebe ich seit mehr als 30 Jahren in Wien und arbeite hier als plastische Chirurgin.

Wien ist eine wunderschöne Stadt und hat mir für diese Zeit gute Dienste geleistet. Jetzt, wo es beruflich ans Aufhören geht, hat Wien aber ausgedient. Es zieht mich und meinen Mann wieder in den Westen. Kals war für mich immer ein Zuhause. Ich kann mir keinen besseren Ort vorstellen, um alt zu werden.

Ich komme aus einer großen Familie. Wann immer wir uns sehen wollten, haben ich und meine acht Geschwister uns ganz selbstverständlich in Kals getroffen. So blieb die Verbindung zueinander und zum Ort bestehen. Einige meiner Schwestern sind nun schon nach Kals zurückgezogen. Das Altern fällt dort leichter: Man unterstützt sich nachbarschaftlich und in der Familie. Und außerdem ist es viel einfacher, in Bewegung zu bleiben. Man geht aus dem Haus hinaus – und geht. In der Stadt bewegt man sich höchstens in das nächste Kaffeehaus. Das hält nicht wirklich fit.

In Kals zu sein, hat mir immer ein Gefühl von Geborgenheit vermittelt. Die Kalser nehmen Anteil an dem, was ich als Ärztin in Wien gemacht habe. Viele zeigen Interesse an dem, was ich tue und wo ich wieder hingereist bin. Ich habe das Zurückkommen immer als angenehm empfunden.

Neben den Menschen gibt es in Kals auch Orte, die mir am Herzen liegen. Einer davon ist das Peters Kirchle. Für mich ist die Ruine des Kirchleins ein Kraftplatz. Bis vor einigen Jahren waren die Kirche und der Weg dorthin fast zur Gänze verfallen. Mein Mann und ich hatten die Idee, die kleine Kirche zu renovieren. Mithilfe der Gemeinde Kals ist es gelungen, die Ruine zu festigen und zu erhalten. Daraus ist ein besonderer, besinnlicher Ort geworden. Viele gehen hin, um einen meditativen Moment zu erleben. Und man hat einen herrlichen Blick über das ganze Dorf.

Ein Blick über die Stadt, dahinter die Berge – dieses Geborgenheitsgefühl ist mir auch im Jemen wiederbegegnet. 2010 saß ich kurz vor der Abreise in der Altstadt von Sanaa oben auf einem Dach. Mein einziger Gedanke war: Wann komme ich wieder hierher?

Ein freiwilliger Hilfseinsatz öffnete mir das Tor zu dieser vertrauen und auch fremden Welt. 2006 rief mich ein Bekannter in Wien an, ob ich ein Ärzteteam für den Jemen als Chirurgin unterstützen würde. Im Jemen wird oft über offenem Feuer gekocht. Viele erleiden schon als Kinder schwere Brandverletzungen. Als plastische Chirurgin kann ich dort mit wenig Ausrüstung viel bewirken. Ich sagte zu.

Im Jemen hat es sich dort in den Bergen wie „dahoam“ angefühlt. Auch die Leute haben mich an die Herzlichkeit der Kalser erinnert. Ich bin insgesamt fünf Mal in den Jemen gefahren. Zuletzt bin ich 2010 alleine in das Land zurückgekehrt. Kurze Zeit später brach der Krieg aus. Es folgten Einsätze in Libyen, an der syrischen Grenze in der Türkei und in Nepal. Durch diese Reisen weiß ich, wie gut wir es hier in Österreich haben – aber auch, wie wenig Materielles man braucht, um zufrieden zu sein.


Wenn ich nun die Chirurgie aufgebe, möchte ich mit meinem Wissen über chinesische Medizin weiterarbeiten. Damit beschäftige ich mich schon seit zehn Jahren. Die Chinesische Medizin kann sehr viel zur Gesunderhaltung der Menschen beitragen. Dieses Wissen möchte ich gerne nach Kals zurücktragen.
Für Kals würde ich mir wünschen, dass in Zukunft eine gute Balance gehalten wird zwischen Tourismus und dem Ort als Wohnort. Osttirols Naturschönheiten sind von unschätzbarem Wert. Den muss man erhalten. Natürlich ist es immer leichter für jemanden, der sein Geld außerhalb verdient, zu sagen: „Naja, ihr braucht nicht mehr Tourismus – es ist viel feiner so, wie es jetzt ist.“ Aber im Gegenzug haben wir Ausheimische den Blick dafür, was wir in Kals zu verlieren haben.